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Stuttgart. Ende Mai 2016 wurde Stuttgart zur deutschen Hauptstadt des Singens: Unter dem Motto „Stuttgart ist ganz Chor!“ machten zehntausende Chorsängerinnen und -sänger aus der ganzen Welt im Rahmen des alljährlichen Deutschen Chorfestes diesmal Stuttgart zu ihrer Bühne.

Ein Gastbeitrag von Arne Matthias Krüger

Das Siriusstreichquartett mit dem Collegium Iuvenum und den Six Pieces of Innocence

Wie würde Mozart heute klingen, wenn er noch lebte? – vielleicht fröhlich oder verspielt (engl.: merrily)? Das fragt sich ein Zuhörer, wenn er den Mozartsaal des Kultur- und Kongresszentrums am 28.05.2016 um 18:45 Uhr betritt. Gregor Hübner, 1. Geiger des Sirius Streichquartetts, meinte dazu vor dem Konzert nur: „Dieser Saal ist der beste!“ Vermutlich wird er recht behalten, denn sowohl Klang als auch Artikulation mischen sich im Mozartsaal perfekt.

Das Siriusquartett spielt stehend, das Collegium Iuvenum ist mit 3 Reihen á 19 Knaben im Alter von 10-25 Jahren dahinter positioniert. Das Quartett eröffnet mit harmonischer Klangwolke zu Knabengesang über John Rutters „Look at the World“, das unsere Schöpfung besingt.

Sofort fallen die kraftvollen Männerstimmen auf, die dem ganzen einen „Drive von unten“ geben. Die klare Sprache des Chores geht vermutlich auf die Impulse seines Leiters Michael Ĉulo zurück. Schnell wird klar: Ohne die beherzten Detachéstriche von John Lawrence (Viola) oder die gefühlvollen Passagen Jeremy Harmans (Violoncello) klingt das Collegium Iuvenum weniger prächtig, dafür intimer. Es folgen Billy Joels „And so it goes“ in einem Arrangement von Kirby Shaw und „The Purcell Project“ von Gregor Hübner (*1967), die jeweils allein vom Chor und allein vom Quartett zu hören sind.

Das Quartett nimmt den Zuhörer mit in eine Welt von glühenden Clustern, die sich mit harmonischen Legati und den Improvisationen Gregor Hübners und Jeremy Harmans abwechslungsreich aber auf unerwartete Art und Weise ergänzen. Es verblüfft auch jeden anspruchvollen Hörer, wie exakt das Quartett zusammen spielt, zusammen atmet, einen einzigen Klangapparat bildet. Das Kollegium Iuvenum singt verschiedene Stücke, die größtenteils nach Teilen einer Messe benannt sind. Dadurch gewinnt das Konzert einen sakralen Charakter. An vielen Stellen strahlen die Knabensoprane hell für die Zuhörer.

Diese bekommen „Hunger auf mehr“. Das Prinzip Spannung durch Pausen kommt in „God be within my head“ klar zur Geltung und das Stück ist präzise intoniert. Der Schwerpunkt des Konzerts liegt auf Gregor Hübners „Six Songs of Innocence“ nach sechs Gedichten aus der Sammlung „Lieder der Unschuld“ von William Blake (1757-1827), die 2014 eigens von ihm für Streichquartett und Knabenchor komponiert wurden. Das erstes Wort von „Spring“, „merrily“, könnte eine Antwort auf die obige Frage sein. Schnell wird klar: Dieses Stück handelt auch von neuartigen Klängen aus unterschiedlichen Stilistiken, darunter Jazz, Cha cha cha und kubanischer Bauernmusik, aber auch dem effektvollen Zusammenspiel der Knaben und des Quartetts, das teils in klassischer Polyphonie, teils in freien Improvisationen sehr viel Abwechslung zu bieten hat.

Ob die Glissandi spielerisch oder als Kontrapunkt zur Aufbruchstimmung gemeint sind? Alles mündet in ein repetierendes Ostinato auf einem Ganzton, das wie selbstverständlich zum nächsten Teil „The Lamb“ überleitet. Hier wird der von Gott geschaffene, kleine Junge mit einem Lamm verglichen. Es wird variiert und das Stück kommt zur Ruhe. Nun kann der Chor eine feierliche Choral-Passage entfalten, während das Quartett Flageoletttöne als Begleitung einsetzt. Ein Crescendo, ein Rallentando, das Quartett übernimmt mit einer ausklingenden Rhythmik und beschließt das Stück mit einem Klageruf, der an die Irrungen und Wirrungen des Anfangs von Mozarts Dissonanzenquartett erinnert. Aus diesem Grund steigt das dritte Stück „Infant Joy“ mit einem einem freudevollen wie feierlichen „sweet joy befall thee“ (dt.: Süße Freude soll dir wiederfahren!.) empor. Das Quartett begleitet halb frei, halb streng und kommt schließlich zu Ruhe. Sehr viel geordneter scheint zunächst das vierte Stück „The little boy lost“ mit der Frage „Father, where are you going? […] O do not walk so fast.“, das von ausgewachsenen Männerstimmen vorgetragen wird.

Doch ist Gregor Hübner ein moderner Komponist und deswegen lässt der rhythmisch-markante Kontrapunkt zu dieser Aussage nicht lange auf sich warten. Er versteht es, die Tonalität so aufzubrechen, dass man auch als konventioneller Hörer gerne zuhört. Es gibt einfach ständig Neues zu entdecken. Geschickt pausiert der Chor am Beginn von „The Shepherd“ während das Siriusquartett mit einer rhythmischen Klangtechnik auf dem Griffbrett in eine freie Improvisation in wechselnden Tonalitäten und Rhythmen einführt. Der verloren gegangene Junge irrt umher, kann aber auf seinen Hirten, Gott, voll und ganz vertrauen.

Der kleine Junge wird schließlich im sechsten Teil „The little boy found“ gefunden und darüber ist die Freude groß. Wieder erhebt sich die 1. Geige um zu zeigen: „Ja, es gibt sie, die Unschuld des ersten Mals“ – alles in der Form einer meisterhaft strukturierten Improvisation. Es erklingen mediantenartige Harmonien die während des Gesangs „falling“ an Intensität zunehmen bevor der Schatten dieser Passage sich endgültig verabschiedet („the shadow leaves“ – dt.: Alle Schatten heben sich.). Immer mehr erinnert das Quartett im folgenden an eine eingespielt diskutierende Familie. Es ist eine phänomenale Klangmischung an diesem dritten Abend des Stuttgarter Chorfestes 2016. Das Stück endet auf dem Anfangswort: „Merrily“!

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